Ein Bärendienst für die Ukrainer

(Dezember 2015)

veröffentlicht am 4. Februar 2016 bei NovoArgumenteOnline

Vor zwei Jahren protestierten zehntausende Menschen drei Monate lang auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz gegen die damalige ukrainische Staatsführung. Der sogenannte „Euromaidan“ mündete schließlich in einen politischen Machtwechsel und in einen bewaffneten Konflikt in der Ukraine. Zwei Jahre - Zeit genug für deutsche Ukraine-Experten erste umfassende Analysen des damaligen Geschehens zu erstellen. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat vor einigen Wochen ein Buch mit dem vielversprechenden Titel „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ vorgelegt. Doch das Werk ist eine Enttäuschung. Eine Rezension.

 

Buchcover Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Im HIntergrund eine Karte der Ukraine.
"Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen" heißt das Buch des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel zum Ukraine-Konflikt. Es ist im Carl-Hanser-Verlag erschienen und kostet 21,90 Euro. Foto: Korinth

In den vergangenen zwei Jahren sind in Deutschland zahlreiche Bücher über den Ukraine-Konflikt erschienen: zusammengefasste Reportagen, Tagebücher, journalistische Essays oder Sammelbände. Eine umfassende Analyse eines deutschen Osteuropa-Wissenschaftlers war bislang nicht darunter. Karl Schlögel, einer der bekannteren Historiker hierzulande, hat nun jedoch ein Buch vorgelegt, das wie eine erste solche Analyse erscheint, verspricht es doch auf dem Titel „Lektionen“ zur Entscheidung in Kiew kombiniert mit einem Bild vom Maidan. Doch über den Konflikt der letzten zwei Jahre lernt der Leser darin wenig. Deutlich wird eigentlich nur Schlögels Abneigung gegen Wladimir Putin.

 

Zu Beginn und zum Ende des Buches erklärt Schlögel, dass er sich als Osteuropa-Spezialist zum Schreiben dieses Buches gezwungen sah. Es gab das Massaker an Demonstranten auf dem Maidan, „Putins Handstreich gegen die Krim“, Putins „freche Lüge“, dass es keine Annexion gebe und einen Krieg in der Ostukraine – all diese Ereignisse hätten Schlögel keine andere Wahl gelassen.

 

Deutsche sollten Ukraine besser kennenlernen

 

Allerdings halte er sich, was die Ukraine angeht, für nicht besonders kompetent, gesteht der langjährige Professor für Osteuropäische Geschichte, der bis 2013 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrte. Auch viele andere deutsche Osteuropa-Fachleute hätten in den vergangenen zwei Jahren feststellen müssen, dass ihnen eine genaue Kenntnis der Ukraine fehle, schreibt Schlögel. Dies gelte erst recht für das allgemeine deutsche Publikum.

 

Deshalb wolle er dem Leser dieses Land etwas bekannter machen und präsentiert dazu Portraits acht ukrainischer Großstädte.[i] Zwei Drittel des Buches bestehen aus diesen Stadtportraits. Schlögels Werk hat hier durchaus Stärken. Zum einen gelingt es ihm, die Vielfalt in dem Land zwischen Karpaten und Donbass nachhaltig darzustellen. Zum anderen sind die Portraits erzählerisch gut gemacht.[ii]

 

Keine sachliche Darstellung des Konflikts

 

Doch Lesern, die sich durch das Buch mehr als nur räumlich-historische Orientierung wünschen, reichen Stadtportraits nicht. Immerhin äußert sich Schlögel auf den ersten rund 80 Seiten und auch während der jeweiligen Portraits analytisch zum Ukraine-Konflikt. Hier bleibt er jedoch Vieles schuldig. Leser die hofften, mit diesem Buch eines wissenschaftlichen Fachmanns auch eine sachliche erläuternde Darstellung des Konflikts mit Erkenntniswert zu finden, werden enttäuscht.

 

Zwar schreibt Schlögel in der Einleitung, es sei nicht seine Absicht, die Ereignisse zu kommentieren. Doch von der ersten Seite an tut er genau das – er kommentiert, und zwar in einer unerwartet einseitigen, oberflächlichen und belegfreien Art. Sofort und immer wieder ist im Buch von „Russlands Aggression gegen die Ukraine“ die Rede. Weitere Begriffe aus der Maidan-PR tauchen auf: „Revolution der Würde“, Destabilisierung durch Russland und immer wieder Putin-Personalisierung. Schnell wird klar, Schlögel übernimmt eins zu eins die Narrative der Maidan-Bewegung.

 

Ein Volk - eine Meinung?

 

„Die Ukraine hat sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen, und die Lebensform, für die sie sich entschieden hat, zu verteidigen“, schreibt er etwa. In einer Art simplifizierend, wie man es von einem renommierten Intellektuellen nicht erwarten sollte, personifiziert Schlögel die Ukraine. Aus mehr als 45 Millionen Menschen macht er mit solchen Sätzen einen monolithischen Volkskörper mit einheitlichem Willen - als ob es in der Ukraine nicht Bürger ganz unterschiedlicher politischer Meinungen gäbe.[iii] Das Prinzip der künstlichen Ausgrenzung von Ukrainern, die den Maidan ablehnen, wird hier wieder sichtbar. (Die nützliche Erfindung der „Pro-Russen“) An anderer Stelle bezeichnet er die Aktivitäten ukrainischer Maidan-Gegner sogar als „Subversion von innen“.

 

Mit diesem Denken erklärt sich auch eine Textpassage in der Schlögel einen russischen Autor zitiert: „Innerhalb von zehn Jahren haben die Ukrainer nun schon ein zweites Mal gegen den ‚älteren Bruder‘ aufbegehrt.“ Orange Revolution (2004) und Euromaidan (2013/14) hätten sich also gegen russische Unterdrückung gerichtet. Schlögel scheint das genauso zu sehen. Doch vergisst er, dass die radikalisierten Regierungsgegner im Februar 2014 kein russisches Besatzungsregime aus dem Amt gejagt haben, sondern eine ukrainische Staatsführung, die demokratisch legitimiert war.

 

Maidan im Buch nur Nebensache

 

Aufstand und Machtwechsel in Kiew spielen in Schlögels Buch trotz des Titels nur eine sehr geringe Rolle. Obwohl  er den Maidan nicht romantisieren oder revolutionstheoretisch überhöhen wolle, bezeichnet er das Ereignis als Volkserhebung und Revolution. Gewalt macht er ausschließlich auf Staatsseite aus. Polizisten nennt er „hochgerüstete Roboter in schwarz“.

 

Die Scharfschützenmorde vom 20. Februar 2014 – das alles entscheidende Ereignis des Maidan – behandelt der Autor in einem Halbsatz. Er rechnet die Schüsse, ohne sich weitere Umstände zu machen, Janukowitschs Sicherheitsapparat zu. Schlögel ignoriert damit Recherchen der BBC, der ARD-Monitor-Redaktion oder die Forschungsarbeit des Politikwissenschaftlers Ivan Katchanovski, die zu ganz anderen Schlüssen kommen. (Scharfschützenmorde in Kiew)

 

Ein Blick in den Literaturanhang zu diesem Kapitel macht deutlich, Schlögel ignoriert auch die gesamte kritische deutschsprachige Literatur zum Maidan bzw. zum Ukraine-Konflikt. Zwar finden sich so gut wie alle Bücher, die auf Pro-Maidan-Linie liegen, in seinem Anhang wieder. Hingegen kommen Werke von Fachjournalisten wie Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Gabriele Krone-Schmalz, Roman Danyluk und viele weitere, die den Maidan kritisch sehen, im Schlögel’schen Kosmos nicht vor. Zur Grundeinstellung eines Wissenschaftlers mag diese Selektivität so gar nicht passen.

 

Über konkrete Entwicklungen, Unterstützerstrukturen, Oligarchen, politische Positionen, wirtschaftliche Interessen, internationale Koalitionen und anderes, was den Maidan erhellen könnte, erfahren Leser in Schlögels Buch sowieso nichts. Namen wie Klitschko, Poroschenko, Jazenjuk, Tjahnybok oder Jarosch fallen auf den knapp 300 Seiten bemerkenswerterweise kein einziges Mal.

 

Russlands Aggression ist „offensichtlich“

 

So richtig scheint der Konflikt für Schlögel erst mit dem Eingreifen Russlands auf der Krim begonnen zu haben. Nicht umsonst nimmt Kritik an Putin und an „Putins Russland“ breiten Raum im Buch ein.

 

Zum Teil ist diese Kritik auch korrekt, denn der Einsatz russischen Militärs auf ukrainischem Staatsgebiet vor und während des Krim-Referendums Mitte März 2014 war rechtswidrig. Dass die russische Armee dort strategisch wichtige Positionen besetzte und die Halbinsel zum ukrainischen Festland hin abriegelte, war ein erwartbarer Schritt zur Sicherung des russischen Flottenstützpunkts in Sewastopol. Dass es sich bei den Besetzern um russische Soldaten handelte, war anhand deren professioneller Ausrüstung und ihres Vorgehens bereits erkennbar, bevor Putin dies zugab. Zudem gab es eindeutige Beweise, etwa als Medien LKW der russischen Armee filmten.

 

In der Ostukraine ist dies jedoch weniger eindeutig. Hier fehlen klare Beweise. Trotzdem ist sich der Historiker sicher, Russland führt dort einen unerklärten Krieg. Die Aggression sei offensichtlich: Nicht ukrainische Truppen stünden in Russland, sondern russische in der Ukraine. Schlögel unterschlägt dabei, dass es westukrainische Truppen und rechtsradikale Freiwilligenbataillone waren, die ab April 2014 in der Ostukraine eingerückt sind. Diese Soldaten wurden von zahlreichen Menschen vor Ort sehr wohl als Besatzungstruppen wahrgenommen. Einwohner versuchten Panzer mit bloßen Händen zu stoppen. Zahlreiche Videos erinnern daran.[iv] Sogar bei Spiegel-Online hieß es damals:

 

„Kiews Armee soll die Ostukraine unter ihre Kontrolle bringen, doch vielerorts sind die Truppen unerwünscht. Etliche Anwohner begegnen ihnen misstrauisch bis feindselig. Einige setzen ihr Leben aufs Spiel, um das Militär aufzuhalten.“

Was Russlands Aggression in der Ostukraine angeht, räumt Schlögel selbst ein, dass westliche „Aufklärungs-Institute“ noch immer nicht in der Lage sind, Beweise für die russische Invasion zu liefern. Dies werde Reportern überlassen.

 

Wie in dieser Passage, so ist mehrmals im Buch Schlögels Methode zu beobachten, dass er bestimmte Sachverhalte, wie hier eine russische Invasion, behauptet, diese dann aber nicht belegt. Lapidar schreibt er stattdessen immer wieder, die Sache sei „offensichtlich“ oder dies könne in vielen Dokumentationen nachgelesen oder gesehen werden. Mit einer Ausnahme –  „Bellingcat“ - nennt er aber keine dieser Quellen.[v] Ein ungewöhnliches Vorgehen für einen Wissenschaftler.

 

Putin wie Hitler, Orthodoxe Kirche wie Islamischer Staat

 

Geradezu paradox wird es, wenn Schlögel einerseits russische Freiwillige in der Ostukraine mit rechtsgerichteten deutschen Freikorps aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gleichsetzt. Er aber andererseits rechtsradikale ukrainische Freiwilligenbataillone verschweigt, deren Kämpfer sich auch schon mal Hakenkreuze oder SS-Runen an die Helme malen.

 

Zudem meint er, Putin setze Russen im Ausland ein, wie Hitler die „Volksdeutschen“ in der Vorkriegszeit. An anderer Stelle setzt Schlögel  Russlanddeutsche, die freiwillig auf Seiten der Separatistenrepubliken kämpfen, mit deutschen IS-Kämpfern gleich. Die russische Orthodoxie habe mit ihrem Fundamentalismus dieselbe Anziehungskraft auf junge Leute wie der fundamentalistische Islam. Für Welt-Rezensent Richard Herzinger  ist Schlögel übrigens ein „Russlandversteher“.

 

Putin, Putin, Putin

 

Die aus den hiesigen Leitmedien sattsam bekannte Putin-Fixierung zieht sich auch durch Schlögels Analyse wie ein roter Faden. Er nennt ihn einen Tatmenschen, der Panzer rollen lasse und die Nato vor sich her treibe. Während der Westen noch diskutiere, zeige Wladimir Putin „Eskalationsdominanz“. Dabei wolle Schlögel den russischen Präsidenten gar nicht dämonisieren, aber es sei eben alle Macht in Russland auf die Person Putin zusammengeschrumpft. Auch diese Behauptung belegt Schlögel nicht.

 

Sätze wie „Die sogenannte Ukraine-Krise ist zuerst eine Russland-Krise“, zeigen wie wenig Schlögel bereit ist, sich mit der ukrainischen Gesellschaft und ihren hausgemachten Problemen auseinanderzusetzen. Jemand, der andere für die Ukraine interessieren möchte, ein Land, das seit 25 Jahren von Moskau unabhängig ist, und sich dann in dem Buch dermaßen auf ein ganz anderes Land (Russland) und dessen Präsidenten kapriziert, erweist der Ukraine und ihren Bewohnern in Wirklichkeit einen Bärendienst.

 

Konfliktebenen vermischt

 

Als erklärter Osteuropafachmann hätte Schlögel deutschen Lesern die innerukrainischen Konfliktparteien näher vorstellen und deren politische, historische und wirtschaftliche Motive in der Auseinandersetzung erläutern müssen. Zusätzlich hätte er dann auch noch deren jeweilige internationale Unterstützer aus Brüssel, Washington und Moskau mit ihren ökonomischen und geostrategischen Motiven einbeziehen können. Doch all dies leistet er nicht. Stattdessen vermischt er in unzulässiger Weise die ukrainische mit der internationalen Konfliktebene, was hier aus konflikt-analytischer Perspektive die wohl größtmögliche Fehlleistung eines Experten darstellt.

 

Zwar ist es wichtig, die Motive Russlands zu benennen, doch dies sollte einerseits rational-kritisch statt emotional-dämonisierend und andererseits gemeinsam mit der Analyse westlicher Motive geschehen. Russland kann kein wirkliches Interesse an einem kriegerischen Brandherd vor der Haustür haben. Eine stabile, funktionierende Ukraine liegt auch in Russlands Interesse[vi], zumindest solange die Ukraine nicht unter Nato-Kontrolle steht. Doch als sich genau dies mit der verfassungswidrigen Absetzung Janukowitschs abzeichnete, griff Putin ebenso rechtswidrig ein. Dies muss zu Recht als eine auf internationales Recht pfeifende Großmachtpolitik kritisiert werden – genauso aber auch die auf jegliches Recht pfeifende westliche Anheizung und Unterstützung des lupenreinen Kiewer Staatsstreiches zuvor.

 

Leitmedienabhängiger Experte

 

Schlögels Buch ist eine Enttäuschung. Seine Stadtportraits sind im Großen und Ganzen zwar aus kulturhistorischer Perspektive interessant, bleiben aber ein touristischer Blick. Zudem wurden die teilweise schon jahrzehnte-alten Portraits bereits an anderen Stellen veröffentlicht.[vii] Die Stadt-Texte bilden keine Einheit mit den restlichen Buchkapiteln. Die Kombination wirkt gezwungen, denn die Portraits haben wenig mit der revolutionsromantischen Putin-Kritik der ersten 80 Seiten zu tun. Nur dieser Teil, der sich an einer oberflächlichen Konflikt-Analyse versucht, ist wirklich neu.

 

Wenn es um die Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahre geht, verzichtet Schlögel darauf, die innerukrainische Konfliktlage darzustellen und er verzichtet in diesem Abschnitt auch fast gänzlich darauf, erläuterndes Fachwissen als Osteuropahistoriker einzubringen. Doch wozu sollten Leser, die den Ukraine-Konflikt besser verstehen wollen, zum Buch eines Experten greifen, wenn dieser nur pathetische PR-Phrasen vom „Freiheitskampf der Ukrainer“ wiederholt, die genauso seit zwei Jahren in sämtlichen Leitmedien zu finden sind und die die Fragezeichen bei den Lesern überhaupt erst erzeugt haben?

 

Chance verpasst

 

Schlögel hat mit seinem Buch eine wichtige Chance verpasst, die hiesige Ukraine-Debatte nach zwei Jahren endlich auf ein seriöses Niveau zu bringen. Er hätte sie als kompetenter Wissenschaftler von der einseitigen und oberflächlichen Berichterstattung deutscher Leitmedien abheben können, die in dem Konflikt nur sehr selten neutral informierten und sich stattdessen bereitwillig von pro-westlichen PR-Instituten und Stiftungen mit Narrativen und Sprachregelungen füttern ließen.

 

Diese Leitmedien überdecken mit ihrem heiligen, geradezu manischen Kampf gegen den russischen Präsidenten bis heute so gut wie alles notwendige Wissen, um Konflikte wie den in der Ukraine zu verstehen. Obendrein wissen auch die allermeisten deutschen Auslandkorrespondenten nur wenig über die politische Landschaft der Ukraine. Hier hätte Schlögel als Experte einspringen können, doch er versagt genauso wie die großen Medien.

 

Einer der wichtigsten Sätze des Buches steht darum auch dort, wo man ihn kaum erwarten würde. Im Literaturverzeichnis schreibt Schlögel einleitend, dass er die Medienquellen wegen ihres Umfangs nicht in das Quellenverzeichnis des Buches aufnehmen könne. Er erklärt: Ohne die Berichterstattung der Medien hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Wie wahr. Und wie traurig, so etwas von einem Experten lesen zu müssen.

 

 



[i] Schlögel verwendet hierzu eine bestimmte Methode: „Man kann Städte lesen“, erklärt er. Die Methode besteht u.a. darin, dass sich Schlögel genaue historische und aktuelle Karten von Städten besorgt, und sich die Ortsgeschichte durch Erkundung und Begehung zahlreicher bedeutender Plätze, Gebäude und teils auch heute nicht mehr sichtbarer Orte erschließt. Er rekonstruiert so verschiedene historische Phasen wie die Industrialisierung oder die großen Kriege.

[ii] Negativer Effekt seiner kulturwissenschaftlich dominierten Stadtbilder ist jedoch, dass die heute dort lebenden Menschen mehr oder weniger zu Statisten werden. Schlögels bildungsbürgerliche Herangehensweise vernachlässigt - mit Ausnahme Donezks - die Lebensumstände und Nöte der Menschen dort. Zu Wort kommen sie in seinem Buch nur selten. Auch hält er sich meist in den historischen Stadtkernen auf, die soziale Realität außerhalb der Zentren interessiert ihn weniger.

[iii] Heiko Pleines von der Forschungsstelle Osteuropa der Uni Bremen stellte 2014 beispielsweise klar, dass im Durchschnitt der letzten zehn Jahre nur jeweils 30 bis 40 Prozent der ukrainischen Bevölkerung für eine EU-Integration gewesen seien - genauso viele wie für eine Annäherung an Russland. Der Text findet sich in den Ukraine-Analysen Nr. 127. Weiter schreibt der Forscher: "Zum Amtsantritt von Janukowytsch im Jahre 2010 lag die Zustimmung zur Integration mit Russland kurzfristig sogar bei über 50%. Weder die Position von Janukowytsch noch die der Opposition ist also diesbezüglich wirklich mehrheitsfähig. Dementsprechend wurden auch die Proteste des Euromaidan im letzten Dezember, also vor der gewalttätigen Eskalation, nur von ziemlich genau der Hälfte der ukrainischen Bevölkerung unterstützt." Eine Meldung der Kiyv Post bestätigt, dass 50 Prozent der Ukrainer Ende Dezember gegen den Euromaidan sind.

[iv] Siehe YouTube-Videos hierzu: etwa aus Slowjansk, aus Mariupol, Kramatorsk und anderen Gebieten. Dem ukrainischen Magazin korrespondent.net sagte ein georgischer Scharfschütze, der für Kiew kämpft, dass 80 Prozent der Einwohner Mariupols gegen die ukrainische Armee  seien.

[v] Dabei handelt es sich um die, laut Schlögel, „professionals des Recherchenetzwerks Bellingcat“, die die Fahrstrecke der russischen BUK, die angeblich MH-17 abgeschossen haben soll, rekonstruiert haben wollen.

[vi] Die russisch-ukrainischen Abhängigkeiten sind nämlich durchaus wechselseitig. Russland ist nach wie vor auf einen reibungslosen Gastransit durch die Ukraine angewiesen, genauso wie die russische Wirtschaft auf rund drei Millionen ostukrainische Arbeitsmigranten. Dazu kommt die historisch bedingte enge Verzahnung der russisch-ukrainischen Rüstungswirtschaft und weiterer verarbeitender Industrie, wofür der frühere Freihandelsvertrag zwischen Moskau und Kiew ein Beleg ist. Russland war auf die ukrainische Einhaltung des Pachtvertrages für seinen Flottenstützpunkt Sewastopol angewiesen. Nicht zuletzt bedeutet eine prosperierende Ukraine auch einen gesicherten ukrainischen Schuldendienst für Moskau. All dies spricht gegen eine vorsätzliche „Destabilisierung“ der Ukraine durch Russland, wie es von westlichen Interessengruppen gern behauptet wird.

[vii] Sein Stadtportrait Donezks erschien am 26. August 2014 in der Süddeutschen Zeitung, sein Portrait Charkiws am 30. Oktober 2014 in der Zeit und das Portrait Dnipropetrowsks am 6. Dezember 2014 in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Texte über Lwiw, Jalta, Odessa und Czernowitz wurden bereits in Büchern zwischen 1991 und 2001 abgedruckt. Der Kiew-Text scheint als einziger noch nirgendwo anders veröffentlicht worden zu sein. Viele von Schlögels Passagen zum Ukraine-Konflikt sind auch online nachlesbar: etwa hier als Vorabdruck bei der taz.